Dr. Jochen Pimpertz, Institut der deutschen Wirtschaft
- Sehen Sie in Bezug auf Armut ein Gerechtigkeitsproblem?
Selbstverständlich fühle ich mich von Armutsproblemen berührt und bilde mir auch eine Meinung darüber, was ich als gerecht empfinde oder ungerecht. Durch die Brille des Wissenschaftlers betrachtet lässt sich die Gerechtigkeitsfrage dagegen kaum mit den Methoden der Ökonomie beantworten. Immerhin kann ich aber in der Rolle des Wirtschaftswissenschaftlers einen Beitrag zur Diskussion leisten, in dem ich Befunde erhebe und einordne, um eine aufgeklärte Diskussion über Armutsgefährdung zu ermöglichen.
Deshalb steht am Anfang die wenig empathisch anmutende Feststellung, dass die statistische Messung von Armutsgefährdung lediglich das Einkommen in den Blick nimmt. Dagegen bleibt das Vermögen außer Acht, über das manche Ruheständler zusätzlich verfügen. Solche Fälle sind aber wohl nicht gemeint, wenn man über Armut diskutiert. Darum ist ein genauer Blick auf die individuellen Lebensumstände geboten, um erkennen zu können, wann Bedürftigkeit vorliegt, ob diese materiell begründet ist oder ob die gesellschaftliche Teilhabe zum Beispiel auch aufgrund von Pflegebedarf gefährdet ist.
Skandalisierungen sind in der Gerechtigkeitsdebatte ebenso zu vermeiden wie die Bagatellisierung von Problemen. Beides hilft vor allem jenen nicht, die der solidarischen Unterstützung bedürfen. In welchen Fällen und in welcher Höhe diese Hilfen erfolgen sollen, kann aber nur das Ergebnis der demokratischen Willensbildung sein und nicht allein das einer ökonomischen Expertise.
- Was würden Sie sofort gegen Altersarmut tun?
In der öffentlichen Debatte werden Befunde zur Altersarmut oftmals zitiert, um radikale Veränderungen in dem System der Alterssicherung zu begründen, zum Beispiel die Einführung einer Grundrente oder eines bedingungslosen Grundeinkommens. Dabei sorgen gesetzliche, betriebliche und private Vorsorge in den meisten Fällen für ein ausreichendes Alterseinkommen, zumal im Notfall auch die Grundsicherung einspringt. Statt also die Architektur des funktionsfähigen Systems in Frage zu stellen, sollte eine aufgeklärte Diskussion darüber geführt werden, ob das Grundsicherungsniveau im Alter hinreichend hoch bemessen ist, um zum Beispiel den besonderen Bedürfnissen hochbetagter Menschen Rechnung zu tragen.
Dass die Grundsicherung bedürftigkeitsgeprüft erfolgt, also eine Offenlegung der Vermögensverhältnisse verlangt, wird vielfach als Zumutung empfunden. Doch ist diese Prüfung notwendig, damit nicht Personen Hilfen beanspruchen, die bei Lichte betrachtet gar keiner Unterstützung bedürfen. Nur so kann auch die Zustimmung der Leistungsfähigen zu den solidarischen Sicherungssystemen nachhaltig gesichert werden. Für die Frage, ob und wie man älteren Menschen die Scham „des Gangs zum Sozialamt“ ersparen kann, gibt es aber intelligentere Lösungen als einen Bruch mit dem etablierten Sicherungsnetz.
- Was hat auf Ihrer politischen Agenda mit Bezug auf Altersarmut oberste Priorität?
Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten erachte ich zwei Dinge für notwendig:
Mit Blick auf Menschen, die nur noch wenige Jahre Zeit zur Vorsorge haben oder bereits im Ruhestand beziehungsweise hochbetagt sind, ist die Frage relevant, ob das Mindestsicherungsversprechen der Gesellschaft hinreichend hoch bemessen ist. Ihnen helfen Systemdebatten wenig. Deshalb empfehle ich, zügig in die Diskussion über die Bedarfsgerechtigkeit der bestehenden Grundsicherung im Alter einzusteigen, um abhängig vom Ergebnis zielgerichtet die bestehenden Hilfen anpassen zu können.
Für jüngere Menschen, die um den Einstieg oder den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt kämpfen, ist es dagegen wichtig, Beschäftigungs- und Einkommensperspektiven zu eröffnen. Denn ohne diese kann eigenverantwortliche Vorsorge nicht gelingen. Dabei muss es einerseits um eine Optimierung staatlicher Förderanreize zur Privatvorsorge gehen, andererseits um eine Verbesserung von Bildungsangeboten, insbesondere für Menschen im mittleren und höheren Lebensalter. Denn angesichts der demografischen Herausforderungen ist ein längeres Erwerbsleben unausweichlich. Damit das gelingt, müssen Problemgruppen besser in das Arbeitsleben integriert und Arbeitnehmer auch in fortgeschrittenem Alter für veränderte Anforderungen des Arbeitsmarktes qualifiziert werden.
- Wie müsste eine Initiative gegen Kinder- und Altersarmut aufgestellt werden, damit die Wirtschaft sie unterstützen könnte?
Egal welcher Altersgruppe hilfsbedürftige Personen angehören, in jedem Fall gilt, dass die Mittel erst erwirtschaftet werden müssen, aus denen Hilfen finanziert werden. Mit dieser einfachen ökonomischen Wahrheit wird deutlich, dass es beim Thema Armut nicht um den Gegensatz von Jung und Alt gehen kann, sondern um die Frage, welche Hilfen gewährt werden können, ohne die Solidarität der Leistungsfähigen zu überfordern. Deshalb hilft es insbesondere nicht, wenn man in einem Gegensatz von Wirtschaft(lichkeit) und Solidarität denkt. Stattdessen steigen die Möglichkeiten solidarischer Hilfe umso eher, je treffsicherer und effizienter diese organisiert werden