Dr. Frank Johannes Hensel, Vorstand der Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege NRW
- Sehen Sie in Bezug auf Armut ein Gerechtigkeitsproblem?
Ich sehe tiefes Unrecht darin, dass 20 Prozent aller alleinstehenden Frauen im Alter finanziell nur mit Hilfe von Angehörigen über die Runden kommen können. Das als Unrecht zu benennen, läuft nicht auf Gleichmacherei hinaus. Ich halte die Erwartung der Menschenfürberechtigt, dass am Ende eines langen Arbeitslebens das Versprechen der Gesellschaft auf eine auskömmliche Rente im Alter eingelöst wird. Die Rente muss zum Beispiel eine vollwertige, gesunde Ernährung ermöglichen, ohne auf Tafeln angewiesen zu sein.
Die Durchschnittsrente für Frauen in Deutschland beträgt 553 Euro, für Männer 1.168 Euro. Die Risikoschwelle für Altersarmut wird mit 918 Euro angegeben[2]. Die Durchschnittsrente der Frauen liegt damit erheblich unter der Armutsrisikoschwelle. Dass Millionen Frauen absehbar in Altersarmut hineinwachsen, spielt in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle. Wer so um die Anerkennung seiner Lebensleistung gebracht wird, kann den Glauben an die Gesellschaft und die Politik verlieren.
- Was würden Sie sofort gegen Altersarmut tun?
Die Wucht, die die Armutsbekämpfung in unserem wohlhabenden Land braucht und verdient, wurde bisher nicht entfaltet. Auch wenn durchaus das eine oder andere geschieht. Warum haben die Landesregierung und die Bundesregierung keinen „Masterplan“ gegen Armut? Wer fühlt sich eigentlich wirklich für dieses Thema zuständig?
Ich würde gerne alle relevanten Akteure zu einem Runden Tisch zusammenrufen, unter der Maßgabe: Altersarmut ist unser Thema – und wenn wir auseinandergehen, werden konkrete Schritte zur Veränderung eingeleitet. An einen solchen Runden Tisch gehören Politikverantwortliche, Wissenschaftler, Verbandsvertreter aus Wirtschaft und Gesellschaft, Ehrenamtliche, sowie Menschen, die von Altersarmut betroffen sind. Die meisten Akteure aus Politik und Verbänden haben keinerlei Erfahrung mit Armut. Sie müssen nicht auf Gesellschaften und Einladungen verzichten, weil sie ihren Gästen zu Hause nichts auftischen können. Die Beteiligung von Menschen, die von Armut betroffen sind, ist deshalb ein Maßstab für die Ernsthaftigkeit, mit der Armut bekämpft wird.
- Welche bisherigen Schwerpunkte und Aktivitäten mit Bezug zu Altersarmut möchten Sie beibehalten?
Wir werden nicht müde, aufzuzeigen, wie Altersarmut, Kinder- und Familienarmut zusammenhängen. Man kann nicht für die einen etwas tun und für die anderen nichts, weil organisatorische Zuständigkeiten und Ressortzuordnungen zwischen den Gruppen der Betroffenen willkürlich Grenzen ziehen. Wer wenig Geld zur Verfügung hat, kann kaum auf den sprichwörtlichen „grünen Zweig“ kommen. Er wird immer wieder den Schulden und den finanziellen Anforderungen des normalen Alltags hinterherlaufen. Staatliche Alimentationssysteme sind nicht in der Lage, Chancengleichheit herzustellen. Die Menschen brauchen eine realistische Perspektive und echte Chancen, um aus ihrer Armutsfalle herauszukommen. Der Weg dahin führtüber Bildung, Arbeit, angemessene Entlohnung und gesellschaftliche Teilhabe.
Unsere grundlegenden Forderungen im Kampf gegen Armut liegen auf dem Tisch:
- Der finanzielle Regelsatz muss auskömmlich für den Monat reichen;
- Teilhabe am öffentlichen Leben muss für jeden Menschen leistbar oder auch kostenlos sein;
- Die Gesundheitskosten müssen gerade auch für Ältere tragbar sein. Ihre Versorgung mit Hilfsmitteln, wie Brillen oderHörgeräte, muss gewährleistet sein.
- Wie müsste eine Initiative gegen Kinder- und Altersarmut aufgestellt werden, damit die Wohlfahrtsverbände sie unterstützen können?
Eine solche Initiative und die gemeinsame Suche nach Maßnahmen, die Alt und Jung zugutekommen, sind aus meiner Sicht begrüßenswert. Die Gemeinsamkeit im Kampf gegen Armut schließt auch eine notwendige AusdifferenzierungnötigerMaßnahmen ein, wie z.B. eine Bildungsinitiativefürdie Kinderund die Sicherung der Grundversorgung im Alter.
Die Wohlfahrtsverbände sind mit den Lebenslagen in jedem Lebensalter vertraut, von der Geburt bis zum hohen Alter. Wir bringen gerne unsere Erfahrungen in eine gemeinsame Initiative gegen Kinder- und Altersarmut auf allen Ebenen ein. Ich könnte mir sehr konkrete Aktivitäten vorstellen, zum Beispiel im Bereich des Wohnens. Wir sollten alle vorhandenen Ressourcen über Verbandsgrenzen hinweg nutzen, um Kinder- und Altersarmut in Nordrhein-Westfalen wirksam zu bekämpfen.
[1] Im Gespräch mit Vera von Achenbach
[1] Quelle: Sozialbericht des Landes NRW 2016